16. März 2018 — Die Aufregung um den Mordanschlag auf den Doppelagenten Sergej Skripal nimmt zunehmend absurde Züge an.
Am Donnerstag kulminierte die öffentliche Empörung über den bislang völlig ungeklärten Vorfall in einer gemeinsamen Stellungnahme der Regierungen Großbritanniens, der USA, Frankreichs und Deutschlands. Man sei „entsetzt“ von diesem „Übergriff gegen die Souveränität des Vereinigten Königreichs“, der einen „Völkerrechtsbruch“ darstelle und „unser aller Sicherheit“ bedrohe:
„Das Vereinigte Königreich hat seinen Partnern gegenüber im Detail dargelegt, dass Russland mit hoher Wahrscheinlichkeit die Verantwortung für diesen Anschlag trägt. Wir teilen die Einschätzung des Vereinigten Königreichs, dass es keine plausible alternative Erklärung gibt, und stellen fest, dass Russlands Weigerung, auf die berechtigten Fragen der Regierung des Vereinigten Königreichs einzugehen, einen zusätzlichen Anhaltspunkt für seine Verantwortlichkeit ergibt.“
Das erinnert stark an die Verkündung des NATO-Bündnisfalls im Oktober 2001, als der Öffentlichkeit ebenfalls keine Beweise für eine Täterschaft vorgelegt wurden. Der damalige NATO-Generalsekretär Robertson ließ seinerzeit verlauten, zur Erklärung des Bündnisfalls sei es auch gar nicht notwendig, dass die USA Beweise vorlegten – vielmehr reiche es aus, wenn die Regierung in Washington „mitteile“, dass solche Beweise existierten. Mit dieser lächerlichen Rhetorik wurde der „War on Terror“ damals begonnen.
So auch heute wieder: Trotz allen furiosen Pauken- und Trompetenklängen, allem „Entsetzen“ und aller „Bestürzung“: Es werden schlicht keine Beweise vorgelegt. Dass es zudem „keine plausible alternative Erklärung“ gäbe, ist offenkundiger Unsinn. Die denkbaren und plausiblen Alternativen sind zahlreicher, als dass sie sich zählen ließen. Die Briten vermeiden bei der Aufklärung zudem in auffälliger Weise den offiziell vorgeschriebenen Weg über die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), was sie nötigen würde, Beweise vorzulegen. Darauf wies der russische Vertreter bei der OPCW in dieser Woche hin. Stattdessen verlassen sich die westlichen Regierungen – man möchte schon sagen, „wie gewohnt“ – auf die psychologische Wirkung einer PR-Kampagne.
Viele große Medien assistieren ebenfalls in bekannter Tradition. Die FAZ spricht empört von einem „Angriff auf den Westen“. Das „beharrliche Leugnen der russischen Regierung“ solle „niemanden wundern“, da ja Geheimdienste sowieso „nie irgendetwas gestehen“ würden. Mit anderen Worten: Allein der Vorwurf reicht selbstverständlich aus für eine Verurteilung.
Die ZEIT wiederum weiß, dass der Fall längst „eine Nato-Angelegenheit“ sei: „Im Gründungsvertrag des Militärbündnisses heißt es im Artikel 5, dass ein bewaffneter Angriff gegen ein Mitglied des Militärbündnisses in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen alle angesehen wird.“ Zu den Waffen also, aber schnell, ehe der Iwan noch mehr Leute auf Parkbänken vor Einkaufszentren liquidiert! Begründete Zweifel und Nachfragen sind unnötig, wenn nicht unpatriotisch.
Die Anti-Russland-Hysterie hat sich zu einer waschechten Paranoia ausgewachsen, gegen die zunehmend selbst absurdeste Verschwörungstheorien harmlos erscheinen – was die konkreten Folgen angeht.
In der London Review of Books, einer der wenigen verbliebenen intelligenten Zeitungen des Westens, schloss der Leitartikel, der sich mit einer Krise der britischen Politik insgesamt befasst, vergangene Woche mit folgendem Satz: „Englands Unglück besteht darin, dass sich Angelegenheiten von größtem Ernst nun in den Händen von grundsätzlich unseriösen Leuten befinden.“
(Dieser Artikel wurde im Online-Magazin Telepolis veröffentlicht.)
(Photo credit: Number 10/CC BY-NC-ND-2.0)
Hallo Herr Schreyer,
vielen Dank, dass Sie immer wieder solche Themen aufgreifen und wichtige Details aufzeigen!
Manche der Vorgänge heutzutage (und insbesondere jene, die Russland betreffen), sind einfach nur noch bizarr. Mir scheint, dass es den Eliten mitunter auch schon gar nicht mehr darum geht, einigermaßen plausible Narrative zu stricken, denn etliche dieser Theater-Aufführungen sind inzwischen SO durchsichtig, dass die Eliten nicht mehr davon ausgehen dürften, dass einigermaßen vernünftige Menschen sie WIRKLICH für glaubhaft halten.
Es reicht ihnen, ihre Behauptungen zu VERBREITEN. Da die Kräfteverhältnisse nun mal so sind, wie sie sind, reicht das. Uns Bürgern bleibt nur, staunend zuschauen, für WIE dumm man uns verkaufen möchte, jeden Tag aufs Neue. Es ist ein absurdes Spiel geworden.
Die Eliten inszenieren ihre Theaterstücke und behaupten, diese seien Realität. Sie WISSEN, dass wir wissen, dass es Theater ist. Aber die Masken sind schon so weit gefallen, dass es selbst auf den ANSCHEIN von Glaubwürdigkeit kaum mehr ankommt.
Sie lachen uns mit offenem Spott ins Gesicht und behaupten – im Bewusstsein ihrer unangreifbaren Position – zynisch lächelnd „2 + 2 = 5“.
Und wir haben offenbar kaum irgendwelche Mittel, das absurde Spiel zu stoppen…
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Ein Zitat von Albrecht Haushofer, Moabiter Sonette:
„Der Wahn allein war Herr in diesem Land.
In Leichenfeldern schliesst sein stolzer Lauf,
Und Elend, unermessbar, steigt herauf.“
Das Wahn ist jetzt Herr in der westlichen Welt und Stolz kommt vor dem Fall.
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gabs alles schon im mittelalter und sie haben völlig recht: heute sind diese muster nur noch lächerlich.
das sie jedoch in politik und medien immer noch bedient werden (können), zeigt leider etwas von deren kraft (und rafinesse).
sich von deren wirkung zu befreien, bleibt wohl jedem einzelnen menschen ganz persönlich als aufgabe überlassen – und dies bei gleichzeitiger suggestion von der „gefährlich-bösartigen“ intention der aufklärung darüber.
jedoch scheint mir der wunsch nach aufklärung etwas größer als im mittelalter geworden zu sein, doch an die stelle der religion ist heute die von moral begleitete ideologie getreten. es ist ein gutes zeichen, dass die gruppe der nichtwähler (TROTZ der demokratischen garantie der freien wahl für alle) die größte im lande ist, denn intuitiv ist vielen klar, das PARTEIEN(ideologien) genausowenig wie religionen ihre interessen vertreten.
für die aufklärungsfreunde ist vieles VÖLLIG NEU zu DENKEN – nur der menschenwürde und lebensfreude in allen ihren zusammenhängen verpflichtet. andererseits ertrage ich die zunahme des zynisch-lächerlich-perversen gebaren vieler menschen immer weniger, die sich in machtkämpfe als lebensinn begeben und am liebsten die schaffung von kontrollierten werken und werten robotern überlassen würden.
also: viel mehr lachen!!! und sich selbst hinterfragen worüber und warum – lachen verbindet und gibt unter den richtigen voraussetzungen kraft.
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Vielen Dank für diesen Beitrag. Ich bin für jeden Artikel dankbar, der sich der westlichen Propaganda entzieht.
Was hier abläuft, ist ein Spiel mit dem Feuer. Wer hätte vor 10 Jahren gedacht, dass mal wieder deutsche Panzer kurz vor Moskau stehen würden (im Rahmen der NATO)? Oder dass die USA massiv kleine Atombomben bauen, damit sie die internationalen Regeln umgehen können, dass diese Waffen auch in Deutschland stationiert werden können, dass US-Bomber entlang der russischen Grenze damit bestückt sind?
Ich denk mir dauernd, was wir für ein großes Glück haben, dass in Russland kein Präsident am Steuer sitzt, der so aggressiv vorgeht wie die westlichen „Eliten“.
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